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Hör das Bild, sieh den Ton

Kein Trick, kein doppelter Boden: "VinylVideo" zeigt Filme auf Schallplatten

Tilman Baumgärtel

Das 20. Jahrhundert ist in der Rückschau auch ein veritabler Club der toten Medien: die Rohrpost, der Telegraph, die mechanische Schreibmaschine, die Schellackplatte, der Super-8-Film, Video 2000, BTX, die 5-Zoll-Diskette - alles Medien, die mal wichtig waren; alle lange tot und vergessen.

Gleichzeitig wird die Lebensdauer der neuen Medien immer kürzer. Wer wird in ein paar Jahren noch Datenträger wie VHS-Kassetten, MiniDiscs, CD-Roms, DVDs oder Hi-8-Kassetten benutzen? Oder sich an flüchtige digitale Datenformate mit so seltsamen Namen wie Quicktime, Shockwave, RealVideo, Liquid Audio oder MP-3 erinnern? 

Langspielplatten aus Vinyl dagegen, die halten! Der Wiener Künstler Gebhard Sengmüller hat für die schwarzen Plastikscheiben, die inzwischen selbst eine medienhistorische Rarität sind, einen Apparat gebaut, der der Liste der ausgestorbenen Medien ein weiteres Exemplar hinzufügt - allerdings eins, das es so nie gegeben hat. 

Sengmüller nennt seine Arbeit "VinylVideo", die jetzt bei dem privaten Berliner Kunstverein Shift e.V. zu sehen ist, einen "Bildplattenspieler". Denn mit ihr kann man auf LP gespeicherte Filme abspielen. Ja, richtig gelesen: Filme, die auf Langspielplatten gepresst sind. Auf eine normale LP-Seite passen acht Minuten bewegte Bilder, auf einer Single sind vier Minuten Flackerfilm. 

Die LPs können auf einem normalen Plattenspieler mit Diamantnadel abgespielt werden. Das Signal wird durch eine "Blackbox" geschickt, die Sengmüller entwickelt hat, und kann dann mit einem handelsüblichen Fernseher gezeigt werden. Es sind Bilder, die man hören, oder Töne, die man sehen kann. 

Verwaschene Bilder

"VinylVideo" ist ein neues Medium, das so tut, als sei es ein uraltes. Der Apparat zeigt geisterhafte, verwaschene Bilder in Schwarzweiss, die aussehen wie eine Liveübertragung aus dem Jenseits. Misstrauische Betrachter haben schon versucht, den Schrank, auf dem der Plattenspieler steht, zu öffnen, weil sie darunter einen Videorecorder oder einen DVD-Player vermuteten, aber nein: "VinylVideo" ist kein Trick und hat keinen doppelten Boden. Die Bilder sind wirklich auf der Schallplatte.

Für Sengmüller ist die Installation ein "Missinglink" in der Medienhistorie: "VinylVideo konstruiert ein audiovisuelles Homemovie-Medium der späten 40er-, frühen 50er-Jahre und schließt so eine Lücke in der Technikgeschichte." Entwickelt hat Sengmüller, der auch ein Patent auf die Technik von "VinylVideo" besitzt, seine fiktive Technologie freilich erst im vergangenen Jahr. 

Fernsehen gibt es schon seit den zwanziger Jahren, und der britische Erfinder John Loggie Baird versuchte bereits 1927 ohne Erfolg, bewegte Bilder in Wachsplatten zu pressen. Bis 1958 der erste Videorecorder entwickelt wurde, blieb es jedoch unmöglich, Fernsehbilder aufzuzeichnen. Ein echtes Massenmedium wurde Video erst in den achtziger Jahren. Davor waren Privatleute, wollten sie bewegte Bilder aufnehmen, auf 8-Millimeter-Film angewiesen, und der war "auf dem Stand von 1920", sagt Sengmüller. 

"VinylVideo" ist eine Geschichtsfälschung, so ähnlich wie die Hitler-Tagebücher: Es erscheint zwar irgendwie plausibel, dass es sie geben soll, aber andererseits wirkt es doch ein bisschen zu gut, um wahr zu sein. Sengmüller selbst nennt die Arbeit einen "medienhistorischen Fake". 

Walter Benjamin hat in seinem Essay "Über den Begriff der Geschichte" geschrieben: "Der Historiker ist ein rückwärts gewandter Prophet." Um die Formulierung zu übernehmen: Gebhard Sengmüller ist ein rückwärts gewandter Innovator. 

Mit "VinylVideo" verhöhnt er unseren Fortschrittsglauben durch einen absurden technologischen Rückschritt. Die Arbeit nutzt Hightech, um damit Lowtech zu simulieren, und liefert uns ein Wurmloch in ein technisches Paralleluniversum. Obwohl "VinylVideo" ein neues Medium ist, ist es schon jetzt so tot wie BTX oder die Rohrpost.

The VinylVideo Theme Song // Ich hab nen Plattenspieler, der verstaubt bei mir im Schrank. Ich hab auch einen Fernseher, aber fernsehen macht mich krank. Ein Videoreko-ho-rder, der kommt mir nicht ins Haus. Der ist mir viel zu teuer, und ich kenn mich damit nicht aus. Refrain: Ich glaub, ich kauf mir VinylVideo. . . (dreimal) Ich leg die Nadel auf die Platte, und schon geht es los. Der Sound ist gut, das Bild brillant; die Freude, die ist groß. Ab jetzt kann ich mit meinem Plattenspieler Filme sehn. Ich muss nie wieder Fernsehn schaun, nie mehr ins Kino gehn. . . Refrain: Zum Glück hab ich jetzt VinylVideo. . . (dreimal) VinylVideo - eine Erfindung von Gebhard Sengmüller in Zusammenarbeit mit Günter Erhart, Martin Diamant und Best Before; mit Platten von Vuk Cosic, Alexei Shulgin, Harry Hund, Heimo Zobernig, Jodi, Kristin Lucas, Visomat, Monoscope und anderen.

Die Ausstellung ist bis zum 27. Oktober bei dem privaten Kunstverein shift e. V. , Friedrichstr. 122/123 zu sehen. Die Öffnungszeiten sind von Mittwoch bis Freitag jeweils von 15 bis 19 Uhr.

VinylVideo www. vinylvideo. com BLZ/MICHAEL BREXENDORFF Zur Erzeugung eines Bildes auf dem Fernsehmonitor starten Sie bitte den Plattenspieler und platzieren Sie die Nadel des Tonarms in der Rille der Vinylscheibe auf dem Plattenteller.

Artikel vom 11. Oktober 2000


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